
Hüftgelenksnahe Frakturen so schnell wie möglich operieren
Hüftgelenksnahe Frakturen betreffen vor allem über 70-Jährige. Für eine gute Prognose ist eine zeitnahe OP essenziell. Lässt sich bei Patienten jedoch nicht feststellen, wann die letzte Einnahme eines gerinnungshemmenden Medikaments – also eines direkten oralen Antikoagulantiums (DOAK) – erfolgt ist, sollen Testverfahren zum Einsatz kommen. Das sieht der Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses vom 22. November 2019 vor. Was es im Einzelnen zu beachten gilt, erklärt Dr. Michael Caspers, Oberarzt der Klinik für Orthopädie, Unfallchirurgie und Sporttraumatologie in den Kliniken der Stadt Köln sowie Leiter der Hippo-A-Studie, in der verlässliche DOAK-Grenzwerte für einen sicheren OP-Beginn festgelegt werden.
Herr Dr. Caspers, was ist typisch für hüftgelenksnahe Frakturen?
Von den deutschlandweit knapp 120.000 Betroffenen pro Jahr sind etwa 80% 70 Jahre und älter. Hüftgelenksnahe Frakturen spielen also im Bereich der Alterstraumatologie eine sehr große Rolle. Nicht nur, weil es sich um einen sehr häufigen Bruch handelt, sondern auch, weil es eine schwere Verletzung ist, die das Leben von Betroffenen massiv verändert, sie in ihrer Mobilität einschränkt und die Gesundheit langfristig belastet. Viele, die zuvor eigenständig gelebt haben, brauchen danach oft von heute auf morgen Hilfe und eine intensivere Betreuung.
Wie läuft die Behandlung ab?
Die meisten Patienten werden mit dem Rettungsdienst zu uns gebracht und in der Notaufnahme erstversorgt. Es findet dort eine initiale Frakturdiagnostik, eine radiologische Diagnosestellung und dann auch die Beratung über das weitere Prozedere statt. Im Rahmen der präoperativen Vorbereitungen wird dann nach Begleiterkrankungen und der OP-Fähigkeit geschaut, und dabei werden auch Laborparameter bestimmt.
Welche Laborparameter spielen eine Rolle?
Das kleine Blutbild sowie weitere Blutzellparameter und auch der Gerinnungsstatus werden erhoben. Befunde aus der klinischen Chemie mit Organparametern wie der Nierenfunktion und Entzündungswerte sind außerdem wichtig. Denn bei antikoagulierten Patienten mit direkten oralen Antikoagulantien entscheidet die Nierenfunktion darüber, wie schnell Substrate ausgeschieden werden. Außerdem gilt es, Einschränkungen von Organfunktionen zu bestimmen und zu schauen, ob beispielsweise eine begleitende infektiöse Erkrankung wie eine Lungenentzündung oder ein Harnwegsinfekt vorliegen, denn sie können die Operationsfähigkeit und das perioperative Management beeinflussen.
Wie ist die Prognose von Patienten?
Das hängt von verschiedenen Faktoren ab. Es gibt viele Studien, die belegen, dass geriatrische Patienten mit hüftgelenksnahen Frakturen von einer zügigen Frakturversorgung profitieren. Es ist nachgewiesen, dass die Prognose hinsichtlich Morbidität und Mortalität im weiteren Krankheitsverlauf sich verschlechtert, je mehr Zeit bis zur OP vergeht. Es kommen dann beispielsweise viel häufiger Lungenentzündungen oder Dekubiti vor, insgesamt ist die Behandlung dann komplikationsbehafteter. Und daher kam es zu dem erstmal sehr positiven Ansatz, festzulegen, dass Patienten mit hüftgelenksnahen Frakturen, so schnell es geht und spätestens innerhalb der ersten 24 Stunden nach Krankenhausaufnahme operiert werden sollen.
Dr. Michael Caspers im Interview
Dr. Michael Caspers hat Medizin in Bonn studiert, in experimenteller Hämatologie und Transfusionsmedizin promoviert und ist seit 2013 an den Kliniken der Stadt Köln tätig – seit Anfang 2020 als Oberarzt in der Klinik für Orthopädie, Unfallchirurgie und Sporttraumatologie. Zusätzlich forscht der Facharzt am Institut für Forschung in der operativen Medizin (IFOM).
Ist das denn immer möglich?
Nicht immer. Denn in dem Patientenklientel der über 70-jährigen gibt es viele Personen, die mit unterschiedlichen Substanzen antikoaguliert sind, und eine gerinnungshemmende Medikation ist ein häufiges Hindernis, wenn es darum geht, Patienten innerhalb von 24 Stunden zu operieren. Früher, vor vielen Jahren, bevor es die neuen oralen Antikoagulantien gab, war das Hauptmedikament, das eingesetzt wurde, Marcumar. Dank eines Antidots konnte die gerinnungshemmende Wirkung davon schlagartig aufgehoben werden, sodass einer operativen Versorgung nichts im Wege stand. Das ist heute nicht mehr so einfach.
Was hat sich verändert?
Bei DOAKs lässt sich im Notfall die gerinnungshemmende Wirkung nicht einfach aufheben. Es gibt zwar für einige Substanzen Antidots, aber die sind sehr teuer und für die Versorgung von hüftgelenksnahen Frakturen absolut nicht suffizient. Hinzu kommt, dass die meisten dieser Medikamente bei normaler Nierenfunktion eine Wirkkinetik von 24 Stunden haben. Das heißt, man muss nach der letzten Einnahme auf jeden Fall 24 Stunden warten, um operieren zu können. Ist die Nierenfunktion eingeschränkt, dauert es präparatabhängig sogar deutlich länger – teilweise 48 bis 72 Stunden. Im schlimmsten Fall können es je nach Präparat, Nierenfunktion und Blutungsrisiko sogar 96 Stunden sein, bis die Substanz sicher aus dem Körper eliminiert ist.
Wie gehen Sie im Alltag mit diesem Problem um?
Unser Standardvorgehen war bislang so, dass Patienten mit DOAKs nierenfunktionsabhängig auf ihre OP gewartet haben. Das heißt, DOAK-Patienten mit normaler Nierenfunktion sind genau an der Grenze, 24 Stunden nach Krankenhausaufnahme, von uns operiert worden. Patienten mit eingeschränkter Nierenfunktion haben wir über diese 24 Stunden hinaus später operiert, wissentlich, dass der Patient etwas länger auf seine Operation wartet. Aber uns war das Blutungsrisiko einfach zu hoch.
Gab es auch Ausnahmen?
Ja. Uns ist aufgefallen, dass es einen großen Anteil an Patienten gibt, zum Beispiel aus Seniorenheimen, bei denen gar nicht genau klar war, ob sie überhaupt antikoaguliert sind. Es gab zwar DOAKs in den Medikamentenplänen, aber die Patienten wussten in der Notaufnahme gar nicht, ob sie die Arzneien auch eingenommen haben. Bei diesen Patienten haben wir dann angefangen, Messungen und initial eine Plasmabestimmung zu machen. Als dann die Point-of-Care-Testung mit dem Doasense-Teststreifen der Firma Hitado auf den Markt kam, haben wir damit qualitativ untersucht, ob eine Antikoagulation mit einem DOAK vorliegt oder nicht. War dies der Fall, haben die Patienten nierenfunktionsabhängig gewartet, andernfalls wurden die Patienten sofort operiert.
Der G-BA hat entschieden, dass ein solcher Nachweis immer erfolgen muss. Warum?
Der Gemeinsamen Bundesausschuss hat entschieden, dass bei Patienten mit DOAK-Medikation eine Gerinnungsdiagnostik spezifisch für dieses DOAK innerhalb der ersten 24 Stunden erfolgen muss, um das Blutungsrisiko dieser Patienten besser quantifizieren zu können. Ist eine schnelle Operation und damit eine, die im ungünstigsten Fall unter Vollantikoagulation stattfindet, für den Patienten die bessere Wahl? Das zu entscheiden ist schwierig und birgt für Patienten und Behandler ein großes Risiko, weil sich die Konsequenzen nicht vollends kontrollieren lassen. Das Ziel des Bundesausschusses ist wohl, die Vorteile einer zügigen Operation möglichst vielen Patienten zugutekommen zu lassen, indem eine Diagnostik vorgeschrieben wird, mit der sich das perioperative Risiko besser abschätzen lässt.

Welche Nachweismöglichkeiten gibt es?
Beim DOAK-Nachweis sind Plasmauntersuchungen für die direkten Xa-Inhibitoren sowie ein substratspezifischer Anti-Xa-Test oder eine Bestimmung der Anti-Xa-Aktivität der Goldstandard. Für den direkten Thrombininhibitor eignet sich ein direkter Thrombininhibitionstest. Damit lassen sich die Aktivität und auch die Substratkonzentration im Plasma bestimmen. Hüftgelenksnahe Frakturen sind keine klassischen Zentrumsindikationen, die nur in Großkliniken oder in überregionalen Kliniken behandelt werden, das sind durchaus auch Indikationen, die von lokalen Regelversorgern gut operativ versorgt werden können. Und hier sind diese Goldstandards aber nicht immer möglich, da Laborkapazitäten und strukturelle Vorgaben unterschiedlich sind.
Welche Lösungen gibt es für kleine Kliniken?
Der POCT-Nachweis bietet für Kliniken ein schnelles Entscheidungskriterium, da er von sehr hohem negativ-diskriminativen Wert ist, den man auch in Studien nachweisen konnte. Ist der POCT-Nachweis im Urin negativ, lässt sich also mit sehr hoher Sicherheit davon ausgehen, dass keine direkte Antikoagulation vorliegt. Das heißt, im negativen Fall hilft einem dieser Test weiter und die Patienten, die „falsch-positiv“ waren, weil ihnen eine Antikoagulation verschrieben wurde, die sie aber nicht genommen haben, die kann man mit diesem POCT-Test sehr einfach und schnell erkennen.
Und im Falle eines positiven Testergebnisses?
Dann würden wir empfehlen, den Goldstandard der Gerinnungsanalytik anzuschließen. Denn, auch das haben Studien gezeigt: Der POCT-Test ist sehr sensitiv. Das heißt, er weist DOAKs selbst dann noch im Urin nach, wenn im Plasma kein Wirkspiegel einer Vollantikoagulation mehr vorliegt, weil es sich um eine kumulierte Ausscheidung handelt. Das heißt, es kann der Fall auftreten, dass der POCT-Test positiv ist, der Patient aber klinisch keine Antikoagulation mehr hat, weil er beispielsweise vor 36 Stunden das Medikament zuletzt eingenommen hat. Über die Bestimmung der Plasmakonzentration lässt sich dann abschätzen, wann der beste Zeitpunkt für eine OP ist.
Ab welchem Wert darf dann sicher operiert werden?
Auch wenn aktuell viel über den potenziellen Grenzwert von 30 Nanogramm pro Milliliter diskutiert wird, fehlt es aktuell noch an wissenschaftlicher Evidenz. Im Extremen ist der Plasmawert ganz niedrig oder ganz hoch. Dann lässt sich sicher sagen, ob eine OP möglich ist oder nicht. Mit allen Werten, die dazwischen liegen, kommt man dann in Schwierigkeiten, weil man gar nicht so genau weiß, was man dem Kliniker sagen soll. Weil sich der klare Grenzwert eben noch nicht sicher bestimmen lässt.
In der Hippo-A-Studie, die Sie leiten, geht es darum, einen klaren Grenzwert festzulegen.
Richtig. Die Studie läuft gerade erst an. Das heißt, es gab eine Vortest-Monocenterstudie, in der wir uns erstmal mit dem POCT-Nachweis und dem qualitativen Entscheidungsprozess der DOAKs beschäftigt haben und das nicht nur in Bezug auf hüftgelenksnahe Frakturen, sondern auf viele klinische Fragestellungen. Im Bereich der Hirnblutungen und vor allem bei Schlaganfällen sind DOAKs ja ein besonders kritisches Thema, weil der Zeitkorridor noch viel kleiner ist mit drei Stunden Lysezeit nach Symptombeginn. Außerdem sind Patienten aufgrund des Krankheitsbildes oft nicht amnestizierbar, weil sie nicht sprechen können oder bewusstseinseingeschränkt sind. Das war der erste Teil der Studie, und daraus ausgegliedert haben wir uns die hüftgelenksnahen Frakturen angeschaut und genau dieses Prozedere evaluiert, was ich gerade eben beschrieben habe: Also mit dem POCT-Test einen qualitativen Vortest zu machen und dann Patienten mit negativem Ergebnis der operativen Versorgung schneller zuzuführen sowie bei Patienten mit positivem Test dann den DOAK-Plasmaspiegel zu checken.